Ist Kriegsdienstverweigerung auch in der Ukraine gerechtfertigt?

Stand:14.08.2023, 06:57 Uhr

Von: Pitt von Bebenburg

„Die Anschuldigungen sind eindeutig eine Schikane.“ Alexia Tsouni (rechts) mit dem von den Behörden angeklagten Jurij Seljaschenko in Kiew. © privat

In Kriegszeiten ist sie ein konkreter Beitrag zum Frieden, sagt die Präsidentin des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung.

Athen/Frankfurt – Kriegsdienstverweigerer laufen auch in der Ukraine Gefahr, zwangsrekrutiert, inhaftiert und verfolgt zu werden, weil sie sich weigern, zu den Waffen zu greifen, erzählt die Präsidentin des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung, Alexa Tsouni, im FR-Interview.

Frau Tsouni, in der Ukraine ist der Pazifist Jurij Scheljaschenko angeklagt worden. Nach seinen Angaben werden ihm „Rechtfertigung der russischen Aggression“ und „Behinderung der Tätigkeit der Streitkräfte der Ukraine“ vorgeworfen. Sie kennen Herrn Scheljaschenko aus der gemeinsamen Arbeit im Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung. Was halten Sie von diesen Vorwürfen?

Ich kenne Jurij sehr gut und weise die Anschuldigungen entschieden zurück. Sie sind völlig unbegründet. Jurij ist ein bekannter Kriegsdienstverweigerer, Pazifist, Menschenrechtsverteidiger und Rechtsanwalt. Die Anschuldigungen sind eindeutig eine Schikane und ein – allerdings erfolgloser – Einschüchterungsversuch gegen ihn und die Ukrainische Pazifistische Bewegung.

Ist dieser Fall einzigartig, oder kennen Sie ähnliche Fälle?

Leider ist Jurij nicht der einzige Fall. Auch Ruslan Kotsaba, der Vorsitzende der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, wurde allein wegen seiner pazifistischen Ideen und seiner Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu Unrecht verfolgt und sogar inhaftiert. Witali Aleksejenko, ein protestantischer Kriegsdienstverweigerer, wurde ebenfalls inhaftiert, weil er die Einberufung zum Militär aus religiösen Gewissensgründen verweigert hatte. Nach einer internationalen Kampagne ist er nun frei.

Andrii Wyschnevetskij, ein christlicher Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen und Mitglied der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, wird entgegen seiner Gewissensgründe in einer Fronteinheit der ukrainischen Streitkräfte festgehalten. Er hat eine Klage gegen den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj eingereicht, um das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen durchzusetzen.

Zur Person

Alexia Tsouni ist Präsidentin des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung. Hauptberuflich arbeitet die 44-Jährige als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nationalen Observatorium in Athen.

Das heißt, das internationale Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird in der Ukraine nicht gewährleistet?

Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen war schon vor 2022 nur unzureichend durch das ukrainische Recht geschützt war. Mit dem Verhängen des Kriegsrechts nach der russischen Invasion vom 24. Februar 2022 wird Verweigerung nur noch in seltenen Ausnahmen anerkannt. Kriegsdienstverweigerer laufen Gefahr, zwangsrekrutiert, inhaftiert und verfolgt zu werden, weil sie sich weigern, zu den Waffen zu greifen.

Die Ukraine verteidigt sich gegen den Angriff Russlands. Ist Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine genauso gerechtfertigt wie in Russland?

Auf jeden Fall. In Kriegszeiten ist Kriegsdienstverweigerung sogar noch wichtiger. Sie ist ein konkreter Beitrag zum Frieden, ein Ausweg aus der Sackgasse, die Tag für Tag eskaliert, mit schrecklichen Aussichten für die Menschheit und den gesamten Planeten.

Wie ist die Situation in Russland? Wie geht Russland mit Pazifisten und Verweigerern aus Gewissensgründen um?

Die Situation in Russland ist noch schlimmer. Die Russische Bewegung der Kriegsdienstverweigerer, unsere Mitgliedsorganisation in Russland, wurde am 23. Juni 2023 als „ausländischer Agent“ eingestuft. Dieser Schritt ist ein weiterer eklatanter Verstoß gegen die Menschenrechte. Das russische Justizministerium beschuldigt die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer, Falschinformationen zu verbreiten und sich gegen die militärischen Aktionen Russlands in der Ukraine zu stellen.

Wir fordern Russland dringend auf, die Stigmatisierung von Menschenrechtsorganisationen und Menschenrechtsverteidigern einzustellen und all die Hunderte von Soldaten und mobilisierten Zivilisten, die sich gegen die Teilnahme am Krieg wehren und unrechtmäßig inhaftiert oder sogar misshandelt werden, unverzüglich und bedingungslos freizulassen.

Das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung bittet um ein Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Was wollen Sie ihm sagen?

Wir möchten ihn daran erinnern, dass Pazifismus in demokratischen Staaten kein Verbrechen ist. Wir fordern, dass die Anklage gegen Jurij Scheljanschenko unverzüglich fallengelassen wird und dass die Menschenrechte in vollem Umfang geschützt werden, einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Es gehört zu den Rechten auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die durch die Europäische Menschenrechtskonvention sowie den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) garantiert werden. Sie sind gemäß ICCPR auch in Zeiten des öffentlichen Notstands unantastbar.

Wie kann es Frieden für die Ukraine geben?

Wie überall auf der Welt, mit Demokratie, Diplomatie, Dialog und Menschenrechten. Wir müssen einfach in den Frieden und nicht in den Krieg investieren, von der Friedenserziehung bis zum Friedensdialog und zu Verhandlungen, und in Sozialausgaben statt in Militärausgaben. (Interview: Pitt von Bebenburg)

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